Eisenberg: Herr Graf, Sie beenden gerade sehr erfolgreich eine Restrukturierungsmission bei einem größeren mittelständischen Automobilzulieferer und Anlagenbauer – wie sehen Sie die Situation der Branche?
Graf: Populistische und protektionistische Stimmungen haben für viel Verunsicherung bei den Konsumenten gesorgt, Halbwahrheiten wurden ausgeschlachtet, ohne angemessen zu bewerten, was die Konsequenzen dieser Entscheidungen sind.
An der Energie-, Umwelt- und Automobilindustrie hängen weitere Branchen – das bedeutet also nichts Gutes für die Entwicklung unserer Industrie. Die globalen Märkte sind sehr unterschiedlich von dieser Verunsicherung betroffen, unser Heimatmarkt allerdings mit am stärksten.
Anstatt unsere führende technologische Marktposition in den genannten Branchen weiter auszubauen, erleben wir über den teilweise einsetzenden Aktionismus einen Stillstand und zwingend notwendige Investitionen werden verschoben bzw. ganz ausgesetzt.
Die Bedeutung des Automobils für den Verbraucher wird sich sicher weiter verändern, auch die eingesetzten Antriebstechnologien. Aufgabe von Politik und Wirtschaft ist es aber, in einer für unser Land entscheidenden Branche, den Übergang mit ruhiger Hand zu gestalten. Aus meiner Sicht ist gerade die Dieseltechnologie technologisch bei weitem noch nicht am Entwicklungsende angekommen. Diese Diskussion wird aber aktuell nicht geführt und in den Bilanzen der Unternehmen stehen Milliarden Entwicklungsaufwand.
Den Wert einer starken technologischen Position finden wir eben auch in den Bilanzen der Unternehmen wieder und diese Werte sollten wir nicht unnötig gefährden. Über den einsetzenden Aktionismus ist ein falsches Bild über die Leistungsfähigkeit der Dieseltechnologie in der Öffentlichkeit entstanden. Die parallele Entwicklung verschiedener alternativer Antriebstechnologien, hier vor allem Elektromobilität und Wasserstofftechnologie, ist absolut notwendig und wird unsere technologische Position im Weltmarkt weiter stärken, überfordert aber aktuell unsere Industrie und hier insbesondere die mittelständischen Zulieferer.
Eisenberg: Worauf sollten sich Unternehmen jetzt einstellen – und welche Fehler sind dabei zu beobachten?
Graf: Unternehmen sollten sich nicht auf die Erfolge der Vergangenheit konzentrieren, aber die heutige starke Position nutzen, um adäquat auf technische Veränderungen und Anforderungen an Veränderungen des Geschäftsmodells zu antworten. Im Wesentlich geht es darum in unsicheren und volatilen Märkten, Unternehmen insgesamt krisenfester auszurichten. Die Situation bietet Chancen für Unternehmen, die ihre Hausaufgaben gemacht haben. Deutsche Unternehmen sind als führende Player in der Energie-, Umwelt- und Mobilitätsindustrie anerkannt – selbst Kalifornien sieht deutsche Unternehmen wie Volkswagen als natürlichen Partner bei dieser Entwicklung.
Technologische und informationstechnische Entwicklungen begünstigen das Zurückholen von Wertschöpfung. In der Vergangenheit dachte man, mit Outsourcing flexiblere Kostenstrukturen zu erzeugen. Verloren hat man oft wesentliche technologischen Fähigkeiten.
In meinem jüngsten Fall haben wir erfolgreich die Steuerungstechnik zurückgeholt, auch wenn wir den Weg noch nicht vollständig zu Ende gehen konnten. Dabei haben wir übrigens festgestellt, dass die viel beklagte Unattraktivität der Provinz, in diesem Fall Niederbayern, so nicht mehr besteht. Wir konnten unseren Personalbedarf an qualifizierten jüngeren Mitarbeitern u. a. mit Menschen besetzen, die aus der Region kommen oder in diese zurückwollten.
An den Montagestandorten in anderen Regionen Deutschlands, auch in Ostdeutschland, konnten wir Mitarbeiter aus der Region in diese zurückholen – junge Menschen wollen offensichtlich bei ihren Familien wohnen und nicht mehr permanent pendeln.
Insgesamt gilt: Eine Krise ist dann eine Krise, wenn sie als solche zu lange negiert und wenn dann viel zu spät reagiert wird. Unternehmen sollten jetzt die möglichen Krisenszenarien durchkalkulieren, um damit die Unternehmen stabiler und krisenfester auszurichten.
Zahlenmäßige Transparenz des Unternehmens in seinen Leistungsprozessen und ständige Beobachtung der Entwicklung am Markt sind deshalb essenziell, um ein Unternehmen durch entsprechende Maßnahmen auf der Erfolgsspur zu halten. Man sollte Rezessionsszenarien durchspielen, klare Break-Even-Betrachtungen anstellen – und bei notwendigen Anpassungsmaßnahmen rechtzeitig das Gespräch mit der Arbeitnehmerseite suchen. Es sollte allen Beteiligten klar sein, welche Maßnahmen bei welcher Entwicklung notwendig und unvermeidlich sind.
Wenn die Beschäftigten gehalten werden sollen – was sowohl aus Unternehmens-, Arbeitnehmer- und gesamtwirtschaftlicher Sicht erstrebenswert ist - muss man rechtzeitig über Modelle für Arbeitszeitanpassung, ggf. gleichzeitig auch Qualifizierungsmaßnahmen diskutieren.
Öffentlich unterstützte Programme zur Requalifizierung sind hier sinnvoll, zusammen mit der Kurzarbeit sind sie sicher ein Asset für den Standort Deutschland.
Eisenberg: Wie ist Ihre Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Unternehmensberatern?
Graf: Die Aufgabe des Restrukturierungsmanagers besteht vor allem in der Kommunikation nach innen und nach außen. Er braucht deshalb Unterstützung durch Partner, die Methodik und Kapazität mitbringen, um schnell herauszufinden, wo die eigentlichen Probleme des Unternehmens liegen. Insofern halte ich den begleitenden Beratereinsatz für sinnvoll und notwendig, vor allem für die finanzielle Analyse des Unternehmens und seiner Leistungsstrukturen. Hierfür braucht man restrukturierungserfahrene Berater, die auch fester Bestandteil des Restrukturierungsteams werden. Ich habe in der Vergangenheit mit den einschlägigen führenden Beratungsunternehmen sehr gute Erfahrungen gemacht.
Die Arbeit der Berater hilft auch dem Restrukturierungsmanager, sich messbare Ziele zu setzen und vor allem, Maßnahmen schnell umzusetzen. In meinem jüngsten Fall haben wir z. B. sehr schnell einen Teil des Produktportfolios aufgegeben, bei dem wir mit sehr geringen Roherträgen, teilweise nur 20 Prozent, unterwegs waren und letztendlich nur unsere Lieferanten gut verdient haben. Mit diesen Maßnahmen haben wir den notwendigen Raum für neue, profitablere Produkte geschaffen. Wir konnten den Rohertrag insgesamt inzwischen auf über 40 % steigern, weil wir für diese Produkte auch eine höhere Eigenleistung realisieren konnten.
Zum anderen werden Berater natürlich gebraucht, solange in den Restrukturierungsfällen Banken involviert sind. Hier muss die Tragfähigkeit des Sanierungskurses über eine positive Fortführungsprognose entsprechend bestätigt werden, auch wenn im Verlauf der Zeit weitere Anpassungen am Sanierungskurs erforderlich sind.
Für die operativen Themen habe ich hingegen in der akuten Restrukturierung weniger mit Beratern zusammengearbeitet. Diese Zusammenarbeit kommt i. d. R. eher erst wieder nach der Überwindung der akuten Krise, wenn Strukturen und Abläufe nachhaltig neuausgerichtet werden müssen, um wieder wettbewerbsfähig zu werden. Dieser Prozess kann bis zu drei oder vier Jahren dauern.
Eisenberg: Wie ist Ihre Erfahrung der Zusammenarbeit mit Interim Managern in solchen Restrukturierungssituationen?
Graf: Meist ist das Management mit dem Unternehmen „historisch gewachsen“ – hier braucht es neue Impulse und Kompetenz von außen. Ein Interim Manager hat andere Unternehmen gesehen, andere Perspektiven erlebt, kann Probleme anders bewerten und schnell die notwendigen Schwerpunkte für Veränderungen identifizieren.
Er muss aus seiner Erfahrung eine Messlatte anlegen können und schnell eine Vorstellung von den erforderlichen Veränderungen gewinnen. Hier habe ich mit guten Interim Managern, wie im letzten Fall von Boyden, gute Erfahrungen gemacht.
Eisenberg: Die EU-Richtlinie zum präventiven Restrukturierungsrahmen – Chance für die frühzeitige und vorinsolvenzliche Restrukturierung?
Graf: Ein neues Tool kann man ausprobieren. Solange Unternehmen allerdings nicht im Restrukturierungsmodus sind, tut man sich hier schwer. Oft kann die Insolvenz die vernünftigere Alternative zur Krisenbewältigung sein, zumal man hier Beiträge von allen Interessensgruppen erreicht. Das gilt – von außen gesehen vielleicht erstaunlicherweise – auch für die Kunden. In einem Fall konnten wir in kurzer Zeit noch in der Insolvenzphase 640 Millionen zusätzlichen Lifecycle-Umsatz gewinnen, weil wir den Kunden erläutern konnten, was für sie auf dem Spiel steht.
Für die außerinsolvenzliche Lösung von Restrukturierungsfällen haben Banken geeignete Vorgehensweisen entwickelt, um, z. B. über Treuhandmodelle, auch adäquate Beiträge der Eigentümer zu sichern.
Insgesamt müssen wir davon ausgehen, dass die Restrukturierungsbranche wieder mehr Arbeit bekommen wird.