Im Interview erzählt die Supply-Chain-Expertin Michèle Gschwend, welche Veränderungen im Geschäftsalltag ins Zentrum rücken und wie sich Unternehmen jeder Grösse für die nächste Krise wappnen können.
Ursprünglich erschienen in FOKUS, einer Publikation der Smart Media Agency
«Die Auffassung davon, was eine Supply Chain beinhaltet, hat sich in den letzten Jahrzehnten tiefgreifend verändert», sagt Michèle Gschwend (vormals Ruoff), die schon mehrere grosse Lieferketten geleitet hat. Die Managing-Partnerin bei Boyden global executive search AG erklärt im Interview, welche Entwicklungen in vollem Gange sind und was sie für Unternehmen bedeuten.
Die Supply Chain begleitet mich seit mehr als 25 Jahren, genauer seit Beginn meiner berufsbegleitenden Doktorarbeit 1996 zum Thema «strategisches Outsourcing». Ich erhielt danach die Chance, verschiedene grosse Supply Chains im «Food and Beverage»-Bereich zu führen, zum Beispiel für das weltweite Airlinecatering von Gate Gourmet, für PepsiCo Europa und die Supply-Chain-Strategie von Kraft Foods International. Ich konnte einen Wechsel von der Konsumgüter- in die produzierende Industrie vollziehen und habe bei Novelis, der ehemaligen Alusuisse, ebenfalls die europaweite Supply Chain geleitet. Selbstverständlich begleitet mich das Thema auch jetzt noch nach meinem Wechsel in den Executive Search.
Vor der Pandemie hat man den Begriff meist gar nicht verstanden. Durch die Coronapandemie, die Invasion in der Ukraine und die damit verbundenen Produkte- und Energieengpässe sowie das höchstrelevante Nachhaltigkeitsthema, ist die Supply Chain plötzlich ein grosses Thema für die ganze Gesellschaft geworden. Bereits bei meinem Einstieg habe ich die Supply Chain als End-to-End-Wertschöpfungskette verstanden und immer ganzheitlich auf Geschäftsleitungsebene betrachtet. Im Grunde ist dies das Businessmodell eines Unternehmens. Meine Definition ist nicht gleichbedeutend mit der Logistik oder Produktion, sondern geht darüber hinaus. Diese Ansicht setzt sich in letzter Zeit immer mehr durch.
Wenn man bei grossen Unternehmungen komplexe Supply Chains führt, geht es nicht nur um Systeme, Tools und Prozesse, sondern schlussendlich immer um die Zusammenarbeit der Menschen. Transformationen oder kulturelle Änderungen können nicht durchgeführt werden, wenn der Mensch und die Unternehmenskultur nicht im Zentrum stehen. Deshalb passte dieser Berufswechsel so gut. Heute besetze ich Geschäftsleitungs- und Verwaltungsratspositionen. Früher haben CEOs vor allem über Geschäftsstrategien gesprochen. Die Lieferkette war eingeteilt in Logistik und Produktion. Nun ist es auch für sie eine wichtige Sache. Die Supply Chain ist im Kern des Geschäftsalltags angekommen.
Absolut, die Wahrnehmung hat sich gewandelt. Die Lieferschwierigkeiten durch die Krisen haben dazu geführt, dass schon fast jedes Kind von der Supply Chain gehört hat. Wenn Unternehmen nicht mehr produzieren können, was wir im täglichen Bedarf benötigen und die Regale leer bleiben, wird es spürbar. Aus diesem Grund finde ich die Analogie zur Kette so wichtig: Wenn nur ein Glied in der Wertschöpfungskette gesprengt wird, fehlt das Produkt.
Alle sprechen über Digitalisierung und die Industrie 4.0, aber für jedes Unternehmen ist es etwas anderes. Es gibt keine allgemeingültige Definition dafür. Die Bedeutung ist industriespezifisch. In der Produktion verweist Digitalisierung vielleicht auf die Automatisierung von Prozessen. In einem Spital geht es eher darum, die Informationen nicht nur auf Papier, sondern auch elektronisch zur Verfügung zu haben. Wenn man all dies auf die Supply Chain herunterbricht, ist die Digitalisierung in jeder Aktivität schon immer dabei gewesen. Schliesslich werden Daten benötigt. Seit es Computer gibt, versucht man so viele Daten wie möglich in einem System wie SAP zu erfassen. Die Digitalisierung gab es nicht erst seit dem Begriff «Industrie 4.0», sondern seit 25 Jahren oder länger. Deshalb bin ich der Ansicht, dass Unternehmen keine Digitalisierungsstrategie brauchen, sondern lernen müssen, mit der digitalen Welt umzugehen.
Ich spreche in Bezug auf das Geschäftsmodell und die Wertschöpfungskette. Die Gesellschaft hat sich verändert. Beispielsweise bestellt vor allem die junge Generation nur noch online mobil auf dem Handy oder Laptop, nicht mehr wie vor dem Internet (1969) direkt im Laden, über Faxpapiere oder später dann am Computer sitzend. Da nützt es nichts, wenn Prozesse automatisiert, Daten gesammelt und abgelegt sind, aber der Shop nicht simpel über das Smartphone erreichbar ist. Man muss lernen, wie die Kundschaft in der digitalen Welt auf einen zukommt.
«Die Supply-Chain-Verantwortlichen versuchen aus der Prozessoptimierung herauszukommen und einen Risikomanagementansatz zu adaptieren.»
Genau. Es geht darum, ein Bedürfnis zu erkennen oder zu schaffen und dann bestmöglich zu befriedigen. Diese Umsetzung verlangt vernetztes Denken entlang der ganzen Wertschöpfungskette eines Geschäftsmodells. Man muss wissen, welche Rohmaterialien benötigt werden, wie das Timing aussieht und welche Bedürfnisse auf dem Markt bestehen und wie man diese Produkte und Dienstleistungen durch Marketing am besten verkaufen kann. Die Einkreisung des Marktes, wen man bedienen will, und der Zeitaspekt werden immer wichtiger.
Der Einfluss der Industrie 4.0 und der Digitalisierung ist, dass man die Veränderung der Welt in der Supply Chain widerspiegeln muss. Man braucht nicht nur Spezialist:innen, sondern Personen, die den Gesamtzusammenhang einer Unternehmung verstehen. Früher stand also vor allem die Prozessoptimierung im Zentrum, neu muss dem Umgang mit der digitalen Welt Rechnung getragen werden.
Wir können nicht mehr sicher sein, was auf uns zukommt. Lieferkettenunterbrüche sind nur ein Beispiel dafür und Unternehmen müssen Wege finden, damit umzugehen. Die Supply-Chain-Verantwortlichen versuchen aus dem Ansatz der Effizienzsteigerung und der Prozessoptimierung herauszukommen und einen ganzheitlicheren Risikomanagementansatz zu adaptieren. Man versucht zu verstehen, welche Glieder das grösste Risiko für die Kette darstellen, dies ist vor allem im Zeitalter der Globalisierung umso wichtiger. Das ist eine Änderung der Denkweise. Einerseits sind wir weit mit den Frameworks, den Prozessoptimierungsansätzen in Teilbereichen, die es zusammenzuführen gilt. Andererseits kann Unerwartetes geschehen und überall alles zu bekommen, ist nicht nur aus wirtschaftlicher, sondern vor allem auch aus gesellschaftlicher und umweltbezogener Sicht nicht mehr weiterhin gerechtfertigt. Wie reagiert das stabile Umfeld darauf? Insbesondere für die Supply Chain hat die Wichtigkeit der Sinnhaftigkeit, Nachhaltigkeit und der Flexibilität zugenommen und ist längst auch Aufgabe des Leaderships.
Man kann nicht alles über die Frameworks erreichen, sondern das muss über den Menschen geschehen. Dazu habe ich ein schönes Beispiel einer Pharmafirma während der Pandemie: Als das System zusammenbrach, haben sie die Planung tagtäglich über Telefon und Excel-Sheet erledigt, weil keine integrierten Daten zur Verfügung standen – und das über die gesamte Supply Chain von der Produktion über die Lieferanten bis hin zur Kundschaft. So etwas wäre nicht möglich, wenn sich die Menschen nicht kennen würden und keine gemeinsame Kultur entwickelt hätten.
Unbedingt, der nur finanz- und fachlich getriebene Top-down-Approach hat ausgedient. Während Corona haben wir gesehen, dass jene Teams agiler und schneller sind, die gut zusammenarbeiten und sich verstehen. Führungsebenen müssen sich dieses Verständnis aneignen. Die strategische Ausrichtung basiert immer auf Hypothesen. Heute muss man diese regelmässig hinterfragen. Stimmen die Annahmen über den Markt, über das Konsumverhalten der Kundschaft noch? Können wir so weiteragieren oder müssen wir etwas anpassen? Das ist das Dilemma von Leadership: Stabile Systeme und Prozesse müssen gegen Agilität und Reaktionsfähigkeit abgewogen werden. Die gesamte Unternehmenskultur ist betroffen. Ich merke das auch im Executive Search. Früher war die Suche nach Führungskräften sehr zahlengetrieben. Man wollte jemanden, der oder die das Prozessverständnis mitbringt, um effektiv Kosten zu senken und Umsätze zu steigern. Jetzt sind auf CEO- und Board-Ebene wie auch in der Supply Chain Menschen gefragt, die kulturell passen und Empathie, agiles Denken und Selbstreflexion zeigen. Denn so ist man schneller, erfolgreicher und hat zudem mehr Freude an der Arbeit.
Sie können sich Grossinvestitionen in die Digitalisierung nicht leisten, doch das müssen sie auch nicht. Sie haben sogar einen Vorteil. Denn die bewussten, punktuellen Investitionen in die Digitalisierung sind oft besser. Und weil sich Menschen in KMU oft gewohnt sind, letzte Teile selbst abzudecken, sind sie krisenrobuster. Am Ende geht es um ein gutes Zusammenspiel von Mensch und Maschine. Ich glaube, gerade die Kleinen, in der Schweiz meist Familienunternehmungen, bringen das besser und schneller hin.
Die Trends im Leadership gehen in Richtung Risikomanagement, ganzheitliches Denken, Nachhaltigkeit und den Umgang mit der digitalen Welt. Die Erlebnisse der letzten Jahre wirken wie ein Katalysator. Wir haben grosse Sprünge gemacht. Die Frage ist, können wir diese Erfahrungen und das Wissen beibehalten und weiter fördern sowie gemeinsam in die Praxis umsetzen?